Neuer Ansatz für Entstehung von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa
So ziemlich alles, was wir über Antworten des Immunsystems auf Nahrungsbestandteile dachten zu wissen, wurde kürzlich über den Haufen geworfen, und zwar mit dem Erscheinen einer Studie im Journal of Clinical Investigation im April dieses Jahres, durchgeführt durch ein Forschungsteam um den Marburger Immunologen Professor Dr. Ulrich Steinhoff.
Bisher galt in der Wissenschaft als unumstößlich, dass Nahrungsbestandteile in einem gesunden Darm keine Immunantwort auslösen. Auch in der Paleo-Wissenschaftssphäre ging man bisher wie selbstverständlich davon aus, dass eine Immunantwort auf Nahrung immer ein Problem darstellt – ein Symptom dafür, dass die Darmbarriere ihren Job nicht erfüllt, zum Beispiel weil die Nahrungsbestandteile selbst oder irgendwelche Bakterien diese Barriere austricksen. Dieses Dogma hat mit der neuen Studie ausgedient.
Die Tragweite der neuen Erkenntnisse ist enorm, vermutlich nicht nur für die Entwicklung neuer Therapien für Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, sondern auch für die Sicht auf andere chronische Erkrankungen mit starker Autoimmunkomponente. Denn wie man inzwischen verstanden hat, fangen viele chronische Krankheiten mit entgleisten Abläufen im Darm an.
Es stellte sich nämlich heraus, dass in einem gesunden Darm in der Nahrung enthaltene Antigene ständig T-Zellen aktivieren. Dies fanden die Wissenschaftler*innen bei der Untersuchung von Peyer-Plaques im Dünndarm von Mäusen heraus.
Peyer-Plaques kommen auch im letzten Abschnitt des Dünndarms sowie im Appendix von anderen Tieren, insbesondere Menschen vor – es handelt sich um kleine knotenförmige Strukturen im Bindegewebe unterhalb des Darmepithels, die zum lymphatischen System gehören und damit auf das Immunsystem, wie in diesem Fall auf T-Zellen, einwirken.
Die auf diese Weise durch Nahrungsbestandteile aktivierten T-Zellen sterben allerdings nach kurzer Zeit ab, so dass sich die Frage stellt, welchem Zweck dieser scheinbar paradoxe Mechanismus dienen soll.
Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk formulierte Prof. Steinhoff die im Lauf der Studie gewonnene Erkenntnis folgendermaßen: „Das ist nämlich, dass diese Lymphozyten aktiviert werden, aber nach kurzer Zeit auch schon wieder absterben. Das war natürlich zuerst einmal ein Widerspruch, denn was soll Aktivierung und gleichzeitig das Absterben? Man konnte es sich so vorstellen, wenn sie das Bild eines Dorfbrunnens vor sich haben: Das Wasser, das in den Dorfbrunnen fließt und das Becken auffüllt, hat aber auch gleichzeitig immer einen gleichen Wasserstand, weil ein Abfluss dafür sorgt, dass es nie überläuft.“
Hinweise auf den tieferen Sinn dieser Abläufe erkennt Steinhoff bei Deutschlandfunk in den scheinbaren Nebeneffekten: „Wir haben gesehen, dass gewisse Zellen, bevor sie absterben, dem Immunsystem eine Hilfe geben, indem nämlich Antikörper produziert werden. Das ist die eine Schiene. Und die andere Schiene war, dass beim Absterben diese toten Zellen dann durch Fresszellen aufgenommen werden und dass diese Aufnahme zur Produktion einer antientzündlichen Substanz führt, nämlich IL-10, die sehr wichtig ist, damit der Darm in Ruhe bleibt.“
IL-10 steht für Interleukin 10. Die Interleukine gehören zu den Zytokinen, also Proteinen, die im Immunsystem als Botenstoffe dienen. Anders als die meisten Zytokine, die eher als entzündungsfördernd bekannt sind, ist IL-10 aber ein wichtiger regulatorischer Stoff, der auf Entzündungsprozesse eindämmend wirkt.
Interessant für Patient*innen mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung sind die Querverbindungen dieser Studie zu den jeweiligen Krankheitsbildern. Bei der Interaktion der erwähnten T-Zellen, den sogenannten CD4+-T-Zellen, mit Nahrungsmittelantigenen werden erstere nämlich nicht nur stimuliert, sondern im Normalfall auch gleich für die bevorstehende Apoptose (den programmierten Zelltod, also das Absterben) markiert. Dies geschieht allerdings nur im Darm gesunder Proband*innen. Das Forschungsteam untersuchte auch Patient*innen mit Morbus Crohn und fand heraus, dass die aktivierten T-Zellen dort viel öfter überlebten, anstatt der Apoptose unterworfen zu sein. Welcher genaue Mechanismus zur „Rettung“ dieser aktivierten T-Zellen führt, ist noch nicht hinreichend geklärt, allerdings lieferte die Studie hierzu Hinweise, auf die ich noch eingehe.
So legen diese Erkenntnisse die Vermutung nahe, dass diese „Streunerzellen“ an den bei Morbus Crohn durch eine andere Studie aus dem Jahr 2014 in Tokio bereits gezeigten Immunreaktionen gegen Nahrungsmittelantigene beteiligt sind. Diese Immunreaktionen, nämlich die erhöhte Aktivität von CD4+-T-Zellen und Bildung von IgGs (Antikörper der Klasse G), richteten sich vor allem gegen Antigene aus Gemüse, Getreide und Nüsse – ein Hinweis darauf, warum die Meidung von Getreide bei der Paleoernährung und die Meidung von Nüssen und vielen Gemüsearten beim Autoimmunprotokoll der Paleoernährung nach Sarah Ballantyne (AIP) sich womöglich bei vielen Patient*innen bewährt hat. Denn in der Tokioter Studie verringerte sich bei Mäusen, bei denen eine Crohn-typische Dickdarmentzündung künstlich hervorgerufen worden war, diese Entzündung, wenn die verabreichte Nahrung weniger der genannten Antigene enthielt.
Eine Colitis (Dickdarmentzündung) tritt häufig als Nebenwirkung eines Krebsmedikaments auf, das dem Apoptose-Marker PD-1 entgegenwirkt. („PD“ steht für „Programmed Death“, also programmierten Zelltod.) Dieses Markerprotein, PD-1, ist in CD4+-T-Zellen, die durch Nahrungsmittelantigene stimuliert wurden, normalerweise in großer Menge vorhanden und trägt dazu bei, dass die Zellen nur kurze Zeit überleben. Durch das Krebsmedikament, genauer gesagt seiner Hemmung von PD-1, werden auch hier T-Zellen vor der Apoptose bewahrt, die ihr normalerweise unterworfen wären. Daher wäre es wichtig, weiter zu erforschen, ob auch bei der Colitis ulcerosa eine verhinderte Apoptose und damit eine zu lange Lebenszeit der stimulierten Immunzellen eine Rolle spielt, so wie es bei der Crohn-typischen Dickdarmentzündung ja schon annähernd auf der Hand liegt.
Auch ein verringertes Vorkommen von PD-1 wird vermutlich eine Rolle bei diesen Prozessen spielen. In der Studie jedenfalls entwickelten Mäuse in Abwesenheit von IL-10 eine schwere Colitis, sobald man ihnen PD-1-hemmende Antikörper verabreichte. Gleichzeitig waren bei ihnen in den Peyer-Plaques erhöhte Zahlen von aktivierten CD4+-T-Zellen zu beobachten. Diese „Streunerzellen“ begannen dann Interferon-γ zu produzieren, ein Zytokin, welches die Immunabwehr hochfährt und zum Beispiel Makrophagen aktiviert.
Ein weiterer auffälliger Unterschied zwischen den aktivierten CD4+-T-Zellen bei gesunden Proband*innen gegenüber denen von Patient*innen mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa offenbarte sich in der Häufigkeit des Transkriptionsfaktors Helios, einem Protein, welches die Genexpression beeinflusst und damit bestimmen kann, wieviel von einem anderen Protein in einer Zelle hergestellt wird. Die Rolle von Helios ist noch umstritten, allerdings ist bekannt, dass auch die meisten Treg-Zellen (regulatorische T-Zellen, die auch eine sehr wichtige Rolle bei der Eindämmung von Entzündungsprozessen spielen) Helios enthalten. Die aktivierten T-Zellen der gesunden Proband*innen enthielten viel mehr Helios als die von erkrankten. Möglicherweise ist Helios sogar an der Herstellung des Apoptose-Markers PD-1 beteiligt. Helios regelte auch die Aktivität von Bcl-2 in den todgeweihten Zellen herunter, einem „Rettermolekül“, das Zellen vor der Apoptose bewahrt und zum Beispiel in Treg-Zellen in großer Zahl vorhanden war.
In den aktivierten CD4+-T-Zellen von Crohn-Patient*innen fand das Forschungsteam ein vergleichsweise niedriges Vorkommen des Zelltod-assoziierten Transkriptionsfaktors Helios und ein vergleichsweise hohes Vorkommen des „Rettermoleküls“ Blc-2.
Eine in Extremfällen ärztlich verordnete Ernährungsform für Morbus-Crohn-Patient*innen ist die manchmal umgangssprachlich „Astronautennahrung“ genannte „Elemental Diet“, die auch über eine Sonde verabreicht werden kann. Damit zeigten Studien immer wieder experimentell Verbesserungen der Entzündungsaktivität, allerdings war bisher der Hintergrund ungeklärt. Eine solche flüssige Spezialnahrung enthält alle für den Menschen essenziellen Nährstoffe, allerdings keine Proteine, sondern freie Aminosäuren. Aus diesem Grund ist sie antigenfrei. Die vorliegende Studie liefert nun eine Erklärung dafür, warum in einem erkrankten Darm, in dem aufgrund von fehlender Apoptose aktivierter T-Zellen zu wenig IL-10 produziert wird und außerdem T-Zellen ständig aktiv sind, die eigentlich schon abgestorben sein sollten, eine Abwesenheit von Antigenen Abhilfe schaffen kann. Schließlich wird so der Vorgang verhindert, bei dem die T-Zellen aktiviert werden.
Allerdings ist dieser Zustand natürlich weit von dem Ideal eines gesunden Darms (ganz zu schweigen von einer genussvollen Lebensweise) entfernt. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist nämlich Folgendes: Mäuse, denen man eine „Elemental Diet“ verabreichte, hatten nach einiger Zeit einen verkümmerten Dünndarm.
Aus dieser Beobachtung und den anderen Erkenntnissen der Studie leitet das Forschungsteam die Einschätzung ab, dass es sich bei der Aktivierung in den Peyer-Plaques und dem darauffolgenden Absterben von T-Zellen um ein Markenzeichen eines gesunden Darms handelt.
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